KONTEXT

In der zweiten Hälfte des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war die Schweiz ein wichtiger Zufluchts- und Exilort für politisch Verfolgte und Drangsalierte. Auch Richard Wagner fand hier nach der Revolution von 1848 Aufnahme. Lenin war von 1908 bis 1917 im Schweizer Exil – bis 1916 in Genf und das letzte Jahr in Zürich.

 

Bereits im August 1893 traf der linksoppositionelle Regimekritiker Jānis Pliekšāns, der später unter dem Künstlernamen Rainis zum lettischen «Nationaldichter» stilisiert werden sollte, am Rande des Internationalen sozialistischen Arbeiterkongresses in der Zürcher Tonhalle (6. bis 12. August 1893) August Bebel. 

 

Einige Jahre später [1896?] folgte ein kurzer Aufenthalt in Zürich, wo Aspazija auf Rainis' Anraten ein Medizinstudium aufnahm, das sie jedoch bald wieder abbrach, um ins russische Generalgouvernement Livland – so der damalige Name und Status der heutigen, 1918 gegründeten souveränen Republik Lettland – zurückzukehren.

 

Nach der niedergeschlagenen Volkserhebung von 1905 im Russischen Reich, bei der in Livland u. a. Rainis als Wortführer agierte, war dieser gezwungen, um sich der Verfolgung (und möglicherweise Ermordung) durch die russischen Staatsorgane zu entziehen, unterzutauchen und ins Exil zu gehen.

M.K.

 

 

Rainis «Castagnola» (Auszug)

 

[…] in alten Erinnerungen zu wandeln, wie damals, vor vielen Jahren – es werden wohl zwanzig und mehr Jahre sein – zwei Exilanten [bzw. Flüchtlinge] aus dem grossen Jahr 1905 in just diesem Bahnhof von Lugano eintrafen: Aspazija und derjenige, der diese Erinnerungen vor Ihnen, den Lesern, spinnt.

Mit Hindernissen hatten wir die russische Grenze überquert; […] Nach langer Fahrt waren wir in ein Land gelangt, wo man uns vor der hohenund ach, so rohenHand des allmächtigen Zaren Zuflucht gewähren konnte und wollte. […]

Wir verlebten drei Monate in dem von unseren Exilanten überfüllten Zürich* […] Dann wollten wir der Erholung und der Arbeit wegen noch weiter nach Italien reisen – das Land meiner alten Sehnsucht, doch dort konnten sich damals die Leute von 1905 nicht wirklich sicher fühlen; soweit ich mich entsinne, wurden um diese Zeit einige russische Emigranten aus Italien entweder ausgeliefert oder ausgewiesen […]

So fuhren wir zumindest in Richtung Italien, an die Grenze, nach Lugano. Dort wollten wir eine Weile in Sicherheit, eben in der Schweiz, wohnen, und uns umsehen, wann und wie wir nach Italien selbst gelangen könnten. Doch je länger wir in Lugano wohnten und uns umsahen, desto unmöglicher wurde es uns, diese Schönheit wieder zu verlassen. Und die Grenzstation, der Warteort, geriet uns zum Bleibeort und zur Grenzstation für unser ganzes Leben. […] Noch heute kehrt der Geist stets zu diesem Ort zurück, und der Geist zieht fast alle Jahre den Leib mit sich – zu Besuch nach Castagnola.

Die Sehnsucht nach Italien wurde fast gestillt in Castagnola.

[…]

Aus dem Lettischen von Matthias Knoll

 

Aus: Rainis: Kastaņola. Pa atmiņu pēdām otrā dzimtenē (Castagnola. Auf Erinnerungsspuren in einer zweiten Heimat), Auszug aus dem Kapitel Divi ceļotāji, bet divi trimdenieki (Zwei Reisende, doch einst – zwei Exilanten), S. 16. – A. Gulbja Apgādība, Riga 1928

 

* Wie Gundega Grīnuma, die Herausgeberin der lettischen Neuausgabe von Kastaņola (Atēna, Riga 2011) anmerkt, belegen diverse Dokumente, dass Rainis’ und Aspazijas Aufenthalt in Zürich lediglich knapp zwei Monate dauerte – vom 22. Januar bis 17. März 1906.

Rainis und/oder Aspazija wohnten im Laufe von 14 Jahren an mindestens vier Adressen in der Stadt. An dem zentral gelegenen Mietshaus in der Usteristrasse 14, wo das Dichterpaar 1912 Quartier nahm, wurde im November 2006 eine Gedenktafel sowie 2018 eine QR-Code-Plakette angebracht. (Anm. d. Üb.)

 

[to be continued …]

 

Lugano. Um 1900.

Lugano. Um 1900.

ASPAZIJA

Aspazija hiess freilich nicht von Kind an Aspazija – ihr Taufname lautete Johanna Emilia Liesette Rosenwald (wohl ein Schreibfehler; richtig wäre: Rosenberg), gerufen wurde sie jedoch Elsa, was schliesslich zu ihrem «bürgerlichen» Namen wurde. In der Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführten modernen Schreibweise lautet ihr Name Elza Rozenberga (sprich Elsa Rosenberga); das an den Nachnamen angehängte «a» verdeutlicht im Lettischen, das keine Artikel hat, dass es sich hier um eine Frau handelt.

 

Das einzige Kind zunächst relativ wohlhabender Besitzer einer Landwirtschaft in Zaļenieki nördlich von Jelgava/Mitau besuchte eine lettische Grundschule und anschliessend – praktisch ohne entsprechende sprachliche Vorkenntnisse – eine deutsche Mädchenschule in Jelgava. Innerhalb eines Jahres begann sie, auf Deutsch Gedichte zu schreiben; als ein ganzes Schreibheft gefüllt war, gab sie es dem Chef einer lettischen Verlagsbuchhandlung in Jelgava – der sie als völlig wertlos beurteilte, weil Gedichte auf Lettisch zu schreiben seien. Es war die Zeit des sogenannten «ersten nationalen Erwachens» der Letten, einer Bewegung, der sich Elza für einige Jahre anschliessen sollte. 1887 veröffentlichte sie unter ihrem Spitznamen Aspazija, den sie sich aufgrund ihrer Wissbegier erworben hatte, ihr erstes Gedicht in einer lettischen Tageszeitung. Das Pseudonym sollte ihr ganzes Leben lang ihr Name bleiben.

M.K.

 

[to be continued …]

 

 

Aus Aspazijas Tagebuch, März 1912:

 

«Ich gehe jetzt vormittags im Wald spazieren, seit ein paar Tagen bin ich allein, R[ainis] ist am 3. März nach Castagnola gefahren. Das, was mir an Zürich gefällt – Kultur gemeinsam mit Natur – gefällt ihm ganz und gar nicht. Mir hingegen sind die naiven italienischen Bauern zutiefst zuwider, denn ich habe nichts mit ihnen zu bereden – wenn über Hühner und Vieh alles gesagt ist, die mir ja nun ebenfalls stark vertraut sind, dann haben sich sämtliche Themen erschöpft.»

Aus dem Lettischen von Matthias Knoll

 

 

Aspazija: Zwischen zwei Heimaten

 

Heimat – was bedeutet dieses Wort für den, der 14 Jahre von ihr fort gewesen! Und nicht nur 14, sondern, mit einer kurzen, sehr kurzen Unterbrechung, ganze 23 Jahre!*

23 Jahre lang abgeschnitten sein von seiner Lebenswurzel, in der Fremde sein, ein Flüchtling im Exil [trimdniecībā], ohne Aussicht, ohne Hoffnung auf Rückkehr.

Ganze Generationen treten während dieser Zeit von der Bühne des Lebens ab und eine neue tritt auf an ihrer Stelle, und irgendwo in einer fernen Gegend kann das Grab eines Emigranten in fremdem Sand versinken und verschwinden. […]

Aus dem Lettischen von Matthias Knoll

 

Lettische Originalüberschrift des Beitrags: Aspazija «starp divām dzimtenēm»

Erschienen in Rainis’ Erinnerungsbuch Kastaņola (1928, S. 19 ff.)

 

Hier schlägt Aspazija den Schweizer Exiljahren jene Zeitspanne zu, die Rainis seit 1897 im Gefängnis, zuvor in der (vorgerichtlichen) Verbannung in Pleskau und in der Deportation nach Norden in Slobodsk verbracht hat. [M.K.]

 

[to be continued …]

 

Aspazija.

Aspazija.

RAINIS

Brief von Rainis aus Castagnola an Aspazija in Zürich

 

Mme A. Naglin* bei Frau Dr. Farbstein, Zürich IV, Turnerstr. 22

Castagnola, 5. März 1912 (Poststempel)

 

Mein liebes Herzdiamantchen, ich bin wieder im alten Zimmer, der alte Müller lässt grüssen, die Bertoglios trauern, der 90jährige Grossvater ist gestorben, das Postfräulein hat versprochen, morgen das Geld vom Bruder zu bringen, Maria ging mit ihrer sanften Hand bei zwei Säufern dazwischen und hat sie voneinander getrennt, nachdem sie ganz Castagnola zusammengebrüllt hatten, der Hausjunge hat angekündigt, sich heute zum letzten Mal recht kräftig auszubrüllen und ab morgen zu schweigen, die Spatzen und Kallas sind lebendig, eine Stille, dass man einschläft. Nun grosse Erholung und Arbeit. Erhole auch Du Dich und beginne zu arbeiten, liebes Herzchen. Heute ist Dein grosser Tag**, vom grossen ein Flaum, fli, fli, fli! Mein Liebling, mein Schätzchen, fliege.

Aus dem Lettischen von Matthias Knoll

 

Abschrift des lettischen Originals des Briefes in: Rainis: Kopoti raksti, Bd. 22,

Abteilung Vēstules. Šveices periods (Briefe. Schweizer Periode), S. 24. – Zvaigzne, Riga 1986

 

* Rainis war mit einem gefälschten Pass in die Schweiz geflüchtet, der auf den Namen «Artur Naglin» ausgestellt war; unter diesem Namen firmierte er während der Exiljahre in der Schweiz, u. a. um den hier tätigen zaristischen Agenten die Verfolgung zu erschweren.

Aspazijas Pass war auf den Namen «Amalie Gerkier» ausgestellt, doch sie firmierte aus naheliegenden Gründen unter dem Namen «Frau Artur Naglin».

** Aspazijas Geburtstag war nach altem Stil bzw. julianischem Kalender der 4. März und nach «neuem Stil» bzw. gregorianischem Kalender der 16. März.

 

 

Rainis.

Rainis.

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Lettland. Poskarte. Um 1920.

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